«Wir möchten die Archive ihrem Publikum zurückzugeben»

Audiovisuelle Archive sind eine Fundgrube voller Erinnerungen. Mit «Mémoire(s) de Suisse romande» macht RTS sein Archiv der Öffentlichkeit zugänglich. Ein preisgekröntes Projekt mit internationaler Ausstrahlung – und vor allem mit grossem gesellschaftlichem Mehrwert, wie etwa die Veranstaltung in Porrentruy gezeigt hat.

In die Vergangenheit eintauchen, Erinnerungen austauschen, die Gegenwart hinterfragen: Das sind die Ziele von «Mémoire(s) de Suisse romande». Das Projekt wurde 2018 von RTS ins Leben gerufen und besteht aus Veranstaltungen, an denen das Publikum Archivmaterial mit Bezug zum jeweiligen Ort zu sehen bekommt.

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Wir möchten die Archive eines Ortes ihrem ursprünglichen Publikum zurückzugeben, nämlich den Leuten des Ortes.»
Marielle Rezzonico, redaktionelle Produzentin bei RTS

Expert:innen begleiten das Ganze mit Vorträgen, organisiert werden die Anlässe in Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden. Das Publikum ist jeweils eingeladen, mitzudiskutieren – so wird das kollektive Gedächtnis genährt. «Wir möchten die Archive eines Ortes ihrem ursprünglichen Publikum zurückzugeben, nämlich den Leuten des Ortes», erklärt Marielle Rezzonico, redaktionelle Produzentin bei RTS und Koordinatorin der Veranstaltungen.

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Marielle Rezzonico, redaktionelle Produzentin bei RTS und Koordinatorin der öffentlichen Veranstaltungen des Projekts «Mémoire(s) de Suisse romande».

Bild: Lucie Donzé

Die ersten Fernseharchive von RTS stammen aus dem Jahr 1954, während die Radiodokumente bis in die 1930er-Jahre zurückreichen. RTS ist somit im Besitz eines riesigen Teils des kollektiven Gedächtnisses der verschiedenen Regionen der Romandie. Für Marielle Rezzonico gehört es «zum Auftrag eines öffentlichen Senders, dieses Gedächtnis zu bewahren und zu teilen».

Der Mehrwert liegt im Austausch

Ein gutes Beispiel: Die Veranstaltung mit dem Titel «Mémoires jurassiennes» im September 2024 in Porrentruy. Der Abend, an dem unter anderem die Frage zur Debatte stand, was die jurassische Identität ausmacht, zog 150 Besucher:innen an. Es ging dabei auch um Heilerinnen und Heiler, das Martinsfest und die Besonderheiten der einzelnen jurassischen Bezirke. Als Expert:innen waren etwa Lucie Hubleur, Denkmalpflegerin des Kantons Jura, und Matthieu Gillabert, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg, dabei. Letzterer erklärte auf dem Podium zum Beispiel, wie Fernsehbilder die Wahrnehmung des Jura in der übrigen Schweiz verändert hatten.

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RTS-Journalistin Mélanie Kornmayer, Alain Charpilloz vom «Jura Libre» und Matthieu Gillabert, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg, an der Veranstaltung in Porrentruy (von links).

Bild: Lucie Donzé

Mit den Veranstaltungen gelingt es RTS regelmässig, die Nähe zum Publikum zu stärken. «Der Mehrwert dieses Projekts liegt eindeutig im Austausch. Zwischen uns und dem Publikum, aber auch unter den Besucher:innen», sagt Marielle Rezzonico. Dadurch hätten die Anlässe auch einen verbindenden Charakter: Generationen würden zusammengebracht, genauso Bürger:innen und Behördenmitglieder.

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Die Veranstaltung in Porrentruy zog 150 Besucher:innen an.

Bild: Lucie Donzé

Begeisterte Rückmeldungen aus dem Publikum belegen diesen Mehrwert. So haben einige der Zuschauer:innen für die Veranstaltung in Porrentruy sogar auf das Spiel des lokalen Eishockeyteams verzichtet. «Denn man hat nicht oft die Gelegenheit, Bilder aus der damaligen Zeit zu sehen», sagt ein Besucher. Für Denkmalpflegerin und Referentin Lucie Hubleur hat das Projekt die Dimension eines gemeinsamen Erinnerungswerkes: Die Besucher:innen diskutieren über ihr gemeinsames Erbe und darüber, was Teil ihrer Identität ist. «Darin sehe ich besonderen Wert.»

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RTS-Journalistin Mélanie Kornmayer, Lucie Hubleur, Denkmalpflegerin des Kantons Jura, und Theater- und Drehbuchautorin Camille Rebetez (von links).

Bild: Lucie Donzé

Preisgekrönt und gefragt

Obwohl die Veranstaltungen und auch die Reportagen aus dem Archiv, die ebenfalls zum Projekt gehören, auf das Lokale und auf persönliche Geschichten ausgerichtet sind, haben sie universellen Charakter. So ist zum Beispiel die Tatsache, dass Bauern in Charmey die Entwicklung des Tourismus verfolgen und nach und nach auf diese neue Einkommensquelle umstellen, ein Thema, das auch in anderen Regionen des Landes und sogar darüber hinaus stattfindet. Einige der Reportagen, die im Rahmen von «Mémoire(s) de Suisse romande» entstehen, werden im Fernsehen ausgestrahlt.

«Mémoire(s) de Suisse romande»

Aufgefallen ist das Konzept auch der International Federation of Television Archives (FIAT). Sie hat «Mémoire(s) de Suisse romande» 2022 mit einem Award auszeichnet. Und: Mehrere ausländische Fernsehsender haben gemäss Marielle Rezzonico bereits ihr Interesse am Projekt bekundet. Ein weiterer Beweis dafür, dass «Mémoire(s) de Suisse romande» einen echten gesellschaftlichen Mehrwert bietet.

Lucie Donzé, Oktober 2024

Kommentar

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